9punkt - Die Debattenrundschau

Von Utopien gar nicht zu reden

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.05.2024. In der FR warnt Timothy Garton Ash vor einer Trump-Partei in Europa. In der taz bedauert der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk die vertane Chance auf eine gemeinsame Verfassung im wiedervereinigten Deutschland. Der Politologe Philip Manow stellt gleich den ganzen Rechtsstaat in Frage. In der SZ legt die israelische Soziologin Eva Illouz dar, weshalb die Proteste gegen Israel nicht antizionistisch, sondern antisemitisch sind. Und in der Welt fragt Joe Chialo, weshalb aus der Antidiskriminierungsklausel sofort die Antisemitismusklausel wurde.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 18.05.2024 finden Sie hier

Europa

Am 23. Mai feiert die Bundesrepublik ihr 75-jähriges Bestehen, die Zeitungen bringen schon heute zahlreiche Politologen-Interviews, die SZ widmet den Feierlichkeiten eine ganze Ausgabe.

Seit der Wiedervereinigung existiert das beste Deutschland, das wir je hatten, meint etwa Timothy Garton Ash im FR-Gespräch, in dem er eine "Gesamteuropapolitik" fordert, insbesondere mit Blick auf eine mögliche Wiederwahl Trumps: "Ich hätte die Hoffnung, dass wir uns zusammenschließen, die Europäer einschließlich der Briten. Wir machen das, was wir schon lange hätten tun sollen, nämlich eine gemeinsame europäische Sicherheitspolitik und auch -Außenpolitik. Meine Befürchtungen wären: Es passiert genau das Gegenteil. Das ist ein wichtiger Punkt, es wird eine Trump-Partei in Europa geben. Hauptfiguren: Viktor Orbán, wahrscheinlich Georgia Meloni. Zweitens wird von Frankreich aus eine gaullistische Position verlangt. 'L'Europe puissance', Europa als Machtzentrum, als eigenständige Alternative zu den Vereinigten Staaten. Viele der osteuropäischen Staaten werden immer noch versuchen, in einem Sonderverhältnis mit den Vereinigten Staaten zu bleiben, weil sie nicht glauben, dass Europa als solches Lettland oder Litauen oder sogar Polen verteidigt. Dann gibt es die vierte Partei mit Deutschland an erster Stelle, die versucht, alle die verschiedenen Richtungen irgendwie zusammenzuhalten."

Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk beklagt derweil in der taz, das wiedervereinigte Deutschland habe nach der Wende die Chance auf eine gemeinsame Verfassung vertan: "Der im Grundgesetz immer noch bestehende Art. 146 - Verabschiedung einer neuen Verfassung über die Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung - fand keine Mehrheit, weder vor noch nach dem 3. Oktober 1990. Eine neue Verfassung hätte die deutsche Einheit auf eine politisch-kulturell-mental andere Ebene, auf ein Dokument der Gemeinsamkeit erheben können. Auch heute könnte das Inkraftsetzen von Art 146 GG etwas bewirken - nämlich Demokrat*innen in der Gesellschaft das Selbstbewusstsein zurückgeben, dass sie in einer großen Mehrheit sind und nicht die linken und rechten Extremisten, die das dauernd für sich reklamieren. Dafür allerdings bedarf es Mut und die Einsicht, dass Verfassungen nicht allein Angelegenheit von Jurist*innen sind, sondern der ganzen Gesellschaft gehören."

"Wir stehen vor Herausforderungen in einer Größenordnung, wie wir sie in den 75 Jahren des Grundgesetzes nicht gesehen haben", sagt die Verfassungsrichterin Christine Langenfeld im SZ-Gespräch mit Blick auf das Erstarken der extremen Ränder. Gegenüber einem AfD-Verbot äußert sie sich skeptisch, die Gesellschaft selbst müsse für die Demokratie und den Rechtsstaat eintreten, meint sie: "Es wird meines Erachtens zu viel geschwiegen. Nach dem Potsdamer Treffen von Rechtsextremisten gab es allerdings öffentliche Kundgebungen, Zehntausende Menschen sind auf die Straße gegangen, das ist wirklich eine sehr ermutigende Sache. Ich würde mir sehr wünschen, dass dieser Einsatz für den demokratischen Rechtsstaat weitergeht. (…) Die Weimarer Verfassung ist daran gescheitert, dass es an Demokraten gemangelt hat. Eine Verfassung lebt davon, dass Demokraten sie tragen. Ich hoffe, dass wir ein Revival des Engagements in den demokratischen Parteien erleben. Bei den anstehenden Kommunalwahlen konnten viele Listenplätze nicht besetzt werden. Das macht mir Sorge."

Ebenfalls in der SZ blickt Hilmar Klute mitunter wehmütig zurück auf die Zeit der intellektuellen Deutungskämpfe, an deren Stelle heute "der maßlose Hass aus den digitalen Zornlaboratorien" getreten ist: "Statt der Ordnung der Diskurse ist der Lärm des Getümmels das Merkmal unserer Jahre. Mag auch sein, dass die Zeit der großen theoretischen Bögen vorläufig vorbei ist und es im Augenblick darauf ankommt, die Krisen zu ordnen und die Gefahren für Demokratie und Freiheit zu benennen. Sagen wir ruhig: Es ist die Stunde der Soziologen, die, wie Steffen Mau und Hartmut Rosa, kühl und empirisch ausloten, in welcher Verfasstheit die deutsche Gesellschaft im Jahr 2024 ist. Für große Denkentwürfe, von Utopien gar nicht zu reden, sind die weltpolitischen Perspektiven vielleicht gerade zu eng."

In der NZZ fordert der russische Kulturwissenschaftler Alexander Etkind nicht nur weitere Waffenlieferungen an die Ukraine, sondern auch strengere Sanktionen gegen Russland, insbesondere um die russischen Öl- und Gasexporte einzudämmen: "Das russische Öl belastet über die Maßen das Weltklima, finanziert heiße und hybride Kriege, korrumpiert weltweit Gesellschaften und zerstört die internationale politische Ordnung. Die russische Niederlage ist daher untrennbar mit der globalen Dekarbonisierung verbunden. Jeder zusätzlich vom Westen gelieferte Panzer, jede Drohne und jede Granate befördert die notwendige russische Niederlage. Die Kriegswende könnte auch eine ökologische Wende darstellen. Russland ohne Öl und Gas wäre ein armes, sehr armes Land. Es wäre nicht einmal in der Lage, die eigene Bevölkerung zu ernähren. Das riesige Gebiet Nordeurasiens, vom Weißen bis zum Schwarzen Meer und von der ukrainischen bis zur japanischen Grenze, könnte ob der herrschenden Not seine politische Einheit verlieren. Es ist nicht ausgeschlossen, dass eine Reihe neuer unabhängiger Staaten entstehen würde. Grenzkonflikte könnten sich zu einem Bürgerkrieg ausweiten."

Mit dem geplanten Gesetz zur "Transparenz des ausländischen Einflusses" steht die Zukunft der Demokratie und die europäische Zukunft Georgiens auf dem Spiel, warnt der Literaturwissenschaftler Zaal Andronikashvili, der in der taz skizziert, wie der Oligarch Bidsina Iwanischwili die Kulturinstitutionen auf regimetreue Linie brachte: "Das, was in der Kulturszene des Landes passiert, zeigt im Kleinen das Bild des ganzen Landes. Die Kulturinstitutionen haben gezeigt, wie ein freies, demokratisches Georgien hätte aussehen können: Professionalität, fairer Wettbewerb und offene Diskussionen haben zum Aufbruch und zu Erfolgen in der Kultur geführt. Im Gegensatz dazu dienen die nun politisch kontrollierten Kulturinstitutionen nur als Propagandainstrumente des Regimes und verkommen zu Entlohnungseinrichtungen für Regimetreue, die jedoch künstlerisch wenig zu bieten haben. Aber auch aus anderen Bereichen wird Talent und Professionalität verbannt und mit der Regimetreue ersetzt. Die Ausschaltung der Zivilgesellschaft, der Freiheit des Ausdrucks und der Kunst braucht Iwanischwili, um sein bizarres Weltbild kritiklos gelten zu lassen. Vor seinen Anhängern sprach der Oligarch von der 'globalen Kriegspartei' - so bezeichnet er den Westen -, die mit Hilfe der georgischen Zivilgesellschaft eine Revolution in Georgien anzetteln wolle, um dem Land seine Souveränität zu nehmen."
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Politik

Buch in der Debatte

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In seinem aktuellen Buch "Unter Beobachtung. Die Bestimmung der liberalen Demokratie und ihrer Freunde" stellt der Politologe Philip Manow nicht nur die liberale Demokratie, sondern auch den Rechtsstaat in Frage. Im Welt-Gespräch erklärt er, wann der Rechtsstaat zur Gefahr für die Demokratie wird: "Der Aufstieg der Verfassungsgerichte ist seit den 1980er-Jahren im Weltmaßstab spektakulär. Das ist wenig bekannt, und aus deutscher Sicht scheint das ein völlig normaler Vorgang zu sein. Ist es aber nicht. In Europa ist dieser Konstitutionalisierungsprozess deshalb noch einmal so intensiviert, weil wir in den 1990er-Jahren zugleich einen extremen EU-Integrationsschub durchlaufen haben. Und auch dieser Integrationsschub verlief fast ausschließlich über das Recht. Dieses Recht wird mit völligem Alleinvertretungsanspruch vom Europäischen Gerichtshof ausgelegt. (...) Es wird nicht mehr darauf geschaut, welche Interessen sich durchsetzen können und welche nicht, ob es überhaupt noch Parlamente sind, die zu den Orten der kollektiven Entscheidungsfindung in einem Land werden."

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Die SZ lässt Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow mit dem amerikanischen Politologen Daniel Ziblatt über die Krise der Demokratie, Trump und die AfD diskutieren. 2018 veröffentlichte Ziblatt das Buch "Wie Demokratien sterben", heute sei die Lage noch fragiler, sagt er. Im neuen, wieder mit Stephen Levitsky verfassten Buch "Die Tyrannei der Minderheit" legt Ziblatt dar, weshalb Demokratien weltweit unter Druck stehen: "Das Wachstum in den Industrieländern ist niedriger als früher. Das befeuert die Angst vor Wohlstandsverlust, und es gibt immer Demagogen, die versuchen, das auszunutzen. Zweitens sind die Gesellschaften diverser. Das ist zwar eine Chance für die Demokratie, aber bringt eben auch Stress. Der dritte Faktor: die technologische Entwicklung, vor allem der Einfluss der sozialen Medien."

Im taz-Gespräch warnt Ziblatt davor, dass Trump den gesamten Regierungsapparat umbauen will. Außerdem konkretisiert er die These seines Buches mit Blick auf die amerikanische Verfassung: "Unsere Institutionen ermöglichen es 30 Prozent der Wähler, sehr viel Macht zu haben. Und ja, unsere Verfassung ist sehr alt und wurde kaum verändert. Das ist Teil des Problems. (…) Die Verfassung hat ein politisches System geschaffen, worin schon immer ländliche Gebiete überrepräsentiert waren. Im 21. Jahrhundert hat sich aber etwas Entscheidendes verändert: Die Trennung zwischen Land und Stadt spiegelt jetzt die Trennung zwischen den Parteien wider. Die Demokraten repräsentieren die Städte, die Republikaner die ländlichen Gebiete. Das führt dazu, dass durch die Überrepräsentierung der ländlichen Gebiete heute die Republikaner überrepräsentiert sind."

Weitere Artikel: Auf den "Bilder und Zeiten" Seiten der FAZ porträtiert der französische Schriftsteller Olivier Guez den argentinischen Präsidenten Javier Milei.
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Gesellschaft

Die Proteste gegen Israel sind sehr wohl antisemitisch, schreibt die israelische Soziologin Eva Illouz, die in der SZ die Geschichte der Verbindung zwischen Antizionismus und Antisemitismus nachzeichnet. Unter anderem zerlegt sie das Argument, "dass die Beteiligung von Juden an einer Bewegung diese vom Vorwurf des Antisemitismus befreit": Dabei handele es sich "ebenfalls um eine alte, von den Sowjets gepflegte Trope (einige jüdische sowjetische Kommunisten verfolgten andere Juden). ...  Seit dem 18. Jahrhundert haben Juden versucht, zu der jeweiligen Kultur und Gesellschaft zu gehören, in der sie leben, und der Antizionismus war eine Möglichkeit, diese Zugehörigkeit zu erlangen, ob in der Sowjetunion oder in westlichen Ländern. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war der jüdische Antizionismus eine legitime Meinung, die in die Debatten über die Rolle, die der Nationalismus in der jüdischen Existenz spielen sollte, eingebunden war. Aber die Bedeutung des Antizionismus hat sich heute stark verändert und ist nicht mehr Gegenstand interner Debatten über die beste Überlebensstrategie. Diverse politische Akteure haben ihn sich schlicht zu eigen gemacht, um ihr Ziel der Beseitigung des jüdischen Staates zu legitimieren."

Für den Spiegel haben Laura Backes und Tobias Rapp Philipp Peyman Engel, Chefredakteur der Jüdischen Allgemeinen und die Autorin Emilia Roig zum deutschen Antisemitismus und zum Nahost-Krieg befragt - und beide geraten immer wieder aneinander: Engel etwa hält den Krieg für "notwendig", Roig spricht von "Genozid". Verteidigt sich Israel nicht, wird es "einen zweiten, dritten, vierten und fünften 7. Oktober geben", glaubt Engel: "In Deutschland wird gern unterschlagen, was Israel alles tut, um die Zivilbevölkerung zu schützen - und was die Hamas tut, um die Zivilbevölkerung zu gefährden, um weitere Tote zu provozieren, um den Krieg der Bilder zu gewinnen." Roig erwidert: "Die israelische Armee ist eine der fähigsten Armeen der Welt. Wenn es ihr nur darum gehen würde, die Hamas zu vernichten, würde sie das auch tun. Es geht Israel aber nicht nur darum, sondern um eine kollektive Bestrafung der Palästinenser."

"Was wir an den Universitäten mit ihren Protestcamps sehen, ist das intellektuell und lebensweltlich insuffiziente Gebölk um alles, nur nicht um die konkrete Verbesserung palästinensischer Lebenslagen", antwortet Jan Feddersen in der taz Naika Foroutan, die im Tagesspiegel geschrieben hatte: Wer, wenn nicht Studierende, sollten auf "Unrecht aufmerksam" machen. (Unser Resümee) "Warum kommt auch einer demokratisch orientierten Sprecherin wie Naika Foroutan nicht in den Sinn, dass in nichtakademischen Bereichen, etwa in Industrie- und Handwerksbetrieben, im schlecht bezahlten Dienstleistungs- und Care-Bereich nicht weniger, sondern ebenso viel Kraft zur volksintellektuellen Arbeit steckt?" Und auch "die Mehrheit aller Migrantinnen* in Deutschland hat mit alldem nichts zu tun. Sie wollen das, was sie bei ihrer Flucht oder, neutraler gesagt, Ankunft in Deutschland ersehnten: ein ruhiges Leben ohne Politzwänge und Bekenntnisorgeleien, ein Leben in Respekt und mit Arbeit, die Kinder versorgen..."

Weitere Artikel: In der NZZ erinnert Reinhard Mohr, welchen Massenmördern linke Revolutionäre schon hinterhergelaufen sind: "Die revolutionäre Ahnengalerie sinkt qualitativ und ist nun beim bärtigen Militärchef der Hamas, Yahya Sinwar, angekommen. Die stalinistische Ära war noch eine Tragödie, nun nähern wir uns der - allerdings blutigen - Farce, wie Marx prophezeite."
Archiv: Gesellschaft

Kulturpolitik

Im Welt-Gespräch verteidigt Joe Chialo die Entscheidung, dass an der FU die Polizei gerufen wurde, erklärt, warum eine Antidiskriminierungsklausel nach wie vor notwendig ist und versichert, dass es nicht darum geht, Künstlern und Projekten, deren Haltung zur Israel nicht der des deutschen Staates entspricht, Förderung vorzuenthalten: "Es geht beim Thema Antisemitismus nicht um eine persönliche Haltung zur aktuellen Politik Israels. Wir sind uns doch einig, dass wir keine rassistischen, antisemitischen und antidemokratischen oder sonstigen verfassungsfeindlichen Projekte mit Steuergeldern finanzieren wollen. (…) Wissen Sie, was ich interessant finde? Die Antidiskriminierungsklausel wurde in der öffentlichen Wahrnehmung sofort auf eine 'Antisemitismusklausel' reduziert. Es ging aber ausdrücklich um jedwede Diskriminierung und Ausgrenzung. Mich hat aber nie jemand - Sie heute übrigens auch nicht - nach einer Definition von Klassismus gefragt, oder von Rassismus."
Archiv: Kulturpolitik