9punkt - Die Debattenrundschau

Was sind das für Menschen?

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.05.2024. In der NZZ wirft der niederländische Schriftsteller Arnon Grünberg dem Westen und insbesondere Deutschland vor, Auschwitz als seine Offenbarung zu betrachten. Ebenfalls in der NZZ fordert der Ökonom Amos Michael Friedländer eine asiatische Nato. Im taz-Gespräch erzählt Amir Kazemi, Cousin des im Iran hingerichteten Majid Kazemi, wie die Familie noch auf der Beerdigung verhöhnt wurde. Zeit Online fragt die progressive Linke, wieso sie nicht auch für die Opfer autokratischen Machthaber im Globalen Süden auf die Straße geht.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 17.05.2024 finden Sie hier

Gesellschaft

Der Großteil der Demonstranten will den immer wieder zutage tretenden Antisemitismus nicht sehen, schreibt Anastasia Tikhomirova, die der progressiven Linken auf ZeitOnline ein paar Fragen stellt, etwa, "weshalb sie sich ausschließlich für die Opfer westlicher Kriegsmächte starkmachen, jedoch nicht für jene von imperialen und autokratischen Machthabern im Globalen Süden. Wieso beispielsweise die größte humanitäre Katastrophe unserer Zeit im Sudan nicht annähernd so viele Menschen auf die Straßen bringt wie die Lage in Palästina. Wieso sie keine Sit-ins und Protestcamps gegen westliche Handelsbeziehungen mit autoritären Regimen wie Aserbaidschan, Iran, Russland oder der Türkei organisieren. Warum sie nicht auch die Freilassung der Hamas-Geiseln fordern. Man könnte sie auch fragen, warum sie die Unterdrückung, die Palästinenser nicht durch Israel erfahren, nicht zu interessieren scheint. Diese leben im Libanon und Syrien beispielsweise als Bürger zweiter Klasse. Die Realität ist auch, dass Palästinenser unter den Entscheidungen der Hamas, ihrer Kompromisslosigkeit und ihrer Bereitschaft, unzählige Zivilisten für den Sieg über Israel als 'Märtyrer' zu opfern, leiden."

Mit '68 haben die propalästinensischen Proteste an amerikanischen Unis rein gar nichts zu tun, schreiben die Studenten Franziska Sittig und Noam Petri in der FAZ. Vor allem, weil sie inzwischen stark von nicht-studentischen Aktivisten geprägt seien: "Das sticht besonders bei der Studentengruppe Students for Justice in Palestine (SJP) ins Auge. Nach einem Bericht der Foundation for Defense of Democracies, eines bekannten amerikanischen Thinktanks, wird die SJP direkt von den American Muslims for Palestine (AMP) kontrolliert und finanziert. Die AMP wurde ihrerseits von früheren Mitarbeitern von Pro-Hamas-Wohlfahrtsorganisationen gegründet. Die als gemeinnützige Organisationen eingetragenen Gruppen haben laut dem Bericht Jahrzehnte lang Spenden in Millionenhöhe für Waffenlieferungen an die palästinensische Terrorgruppe gesammelt, bevor sie von amerikanischen Behörden zerschlagen wurden. Die AMP betreibt heute umfangreiche Lobbyarbeit auf dem Capitol Hill. ... Der 7. Oktober wurde von SJP-Gruppen als 'historischer Sieg für den palästinensischen Widerstand' gefeiert, Hamas-Terroristen als 'Märtyrer' gepriesen und der darauffolgende 12. Oktober zum 'National Day of Resistance' erklärt."

"Wenn man durch eine auf Dauer angelegte Besetzung Fakten schafft und wissenschaftlichen Austausch verhindert, halten wir das auf dem Campus nicht für zulässig", rechtfertigt Günter Ziegler, Präsident der FU Berlin, im Gespräch mit der SZ die von ihm veranlasste Räumung des Protestcamps. Er selbst habe "als Universitätspräsident kein allgemeinpolitisches Mandat. Aber es gibt Grundsätze, die nicht zur Debatte stehen. Dazu gehören das Existenz- und das Selbstverteidigungsrecht Israels. Das ist Staatsräson, dieser Konsens muss für alle gelten, und das muss ich gewährleisten. Alles, was weitergeht, also Fragen der Kriegsführung, die Frage, ob man einen Waffenstillstand fordern muss, die Visionen für eine Friedenslösung - das sind politische Fragen, zu denen ich als Präsident keine Aussagen mache."
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Kulturpolitik

Niklas Maak besucht für die FAZ die Dauerausstellung des letzte Woche eröffneten "Museums Zwangsarbeit im Nationalsozialismus" in Weimar, die der Geschichte der rund zwanzig Millionen Zwangs- und "Fremdarbeiter" unter den Nationalsozialisten gewidmet ist, aber auch "ein sehr präzises Bild der Strategien und kollektiven Rituale" zeichnet, "mit denen sich im Dritten Reich eine neue, nationalsozialistische Gesellschaft formierte: Über das Instrument der Arbeit wurde eine 'Volksgemeinschaft' gebildet, gleichzeitig wurden ganze Bevölkerungsgruppen über erzwungene Arbeitseinsätze ausgegrenzt und schließlich vernichtet." Das Museum macht sehr deutlich, wie das vonstatten ging. Aber, fragt sich Maak, der auf dem Weg zum Museum an AfD-Plakaten mit Sprüchen wie "unser Land zuerst", "Abschieben schafft Wohnraum" oder "Frauen und Mädchen schützen" vorbeigegangen ist, wen werden die Strategien der Nazis noch erschrecken?
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Politik

Vor einem Jahr wurde im Iran der 30-jährige Majid Kazemi hingerichtet. Sein in Deutschland lebender Cousin Amir Kazemi hatte sich vergeblich für seine Freilassung eingesetzt. Wie es danach für die Familie Kazemi weiterging, erzählt Amir Kazemi im Interview mit der taz: "Majids Familie stand fürchterlich unter Druck. Die Islamische Republik hatte ihr Kind ermordet. Majids Bruder bekam dann einen Anruf, er solle die Leiche abholen kommen. Während der Beerdigung kamen Basidschis (Miliz der Revolutionsgarden im Inland; Anm. d. Red.). Sie lachten die Familie aus, zertraten sogar die Blumen. Was sind das für Menschen? Sie töten unseren Angehörigen und selbst dann kennen sie keine Gnade. Auch Majids Brüder, Hossein und Mehdi, wurden zwischenzeitlich verhaftet. Beide kamen später auf Kaution frei, aber das Regime drohte, sie wieder zu verhaften. Sie wollten die Familie brechen."

Auch wenn er nicht glaubt, dass sie zustandekommt, plädiert Amos Friedländer in der NZZ mit Blick auf einen möglichen Krieg Chinas gegen Taiwan für eine asiatische Nato: "Die wichtigsten Partner der USA sind Japan, Südkorea, Großbritannien, Australien, die Philippinen sowie Indien. Tokio, Seoul und Manila haben ein Verteidigungsabkommen mit Washington, wobei die Philippinen unter ihrem früheren Präsidenten Duterte dessen ungeachtet China zuneigten. Mit Indien gibt es eine Zusammenarbeit, welche vor allem Hightech-Waffensysteme betrifft, und die USA, Japan, Indien und Australien kooperieren auch in der sogenannten Quad-Gruppe. Als weitere Verbündete kommen vor allem Länder in Betracht, die in Konflikte mit China bezüglich des Grenzverlaufs ihrer jeweiligen exklusiven Wirtschaftszonen im Südchinesischen Meer verstrickt sind. Es handelt sich um Vietnam, Indonesien, Brunei und Malaysia. Unter diesen ist insbesondere Vietnam, das bereits 1979 einen Angriffskrieg Chinas abgewehrt hat, ein Kandidat für eine Zusammenarbeit mit den USA, auch wenn dies angesichts der schweren historischen Verwerfungen des Vietnamkriegs überraschen mag."
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Stichwörter: Iran, Friedländer, Amos

Geschichte

Harsche Kritik äußert der niederländische Schriftsteller Arnon Grünberg in der NZZ nach einem Besuch im Holocaust-Museum in Amsterdam nicht nur an der deutschen Erinnerungskultur. Holocaust-Pädagogik entpuppe sich als "Schule für Antisemiten", schreibt er: "War der Holocaust eine Zäsur in der Geschichte? Oder sollte der Holocaust als Teil der Kolonialgeschichte betrachtet werden? Diese Frage ist natürlich in erster Linie eine politische Frage, denn Geschichtsforschung bedeutet ja, Geschichte neu zu erfinden. Sicher ist, dass der Westen selbst, vor allem Deutschland, Auschwitz als seine Offenbarung betrachtete. Diese Offenbarung brachte im Westen eine neue Selbstidentifikation hervor, die Post-45-Theologie, die in den toten Juden die Märtyrer ihres eigenen neuen Ursprungsmythos entdeckte, komplett mit Menschenrechten und allem. Man gedachte der toten Juden, nahm sie behutsam auf und musealisierte sie schließlich. Der Feind war der Antisemit, der Faschist, der Völkermörder. Heute werden die toten Juden herbeigepfiffen, damit sie in verschiedenen Holocaust-Museen auf der ganzen Welt auftreten. Jugendliche werden in diese Museen geführt in der Hoffnung, dass sie weniger antisemitisch wieder herauskommen, als sie hineingegangen sind. Diese Hoffnung ist oft vergebens. Im besten Fall verlassen die Kinder das Museum und schreiben auf einen Zettel: 'Ich verspreche, netter zu sein.'" Was die Alternative zu dieser Erinnerungskultur wäre, sagt Grünberg nicht.
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Stichwörter: Erinnerungskultur

Europa

Lennart Laberenz besucht für die FAZ das schwer unter Feuer stehende Charkiw und lernt dabei auch zwei befreundete Studenten kennen, die unterschiedlicher nicht sein könnten: "Vadim hat mit der Ukraine abgeschlossen, sagt er, seine Eltern seien damit überhaupt nicht einverstanden. Er bezweifelt, dass der Krieg gewonnen werden kann. 'Ich werde über die Grenze gehen, illegal.' Erst in dieser Woche ertranken vier Ukrainer in der Theiß, dem Grenzfluss zu Rumänien. Serhij hört geduldig zu, er kennt die Geschichte seines Freundes, sieht die Dinge aber anders, hat gerade begonnen, IT-Management zu studieren. Wenn man ihn fragt, ob er fürchtet, vom Militär eingezogen zu werden, antwortet er schnell und überzeugt: 'Darauf bereite ich mich vor.' Er trainiert mit Gewichten, besucht Seminare in Elektrotechnik. Serhij will zu einer Drohnen-Einheit: 'Ich will helfen, die Stadt zu verteidigen', sagt er. Serhij ist neunzehn Jahre alt. Vadim schweigt, dann stoßen sie mit Ihren Bierflaschen an."
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Stichwörter: Ukraine-Krieg, Charkiw

Medien

Dem Blog Volksverpetzer, das Recherchen zu Extremismus und Antisemitismus leistet, wurde die Gemeinnützigkeit entzogen, er muss rückwirkend ab 2021 einen hohen fünfstelligen Betrag nachzahlen - zu den Gründen schweigt das Finanzamt, die Gesetzeslage ist ohnehin "schwammig", berichtet Saladin Salem in der SZ. Der aktuelle Koalitionsvertrag der Ampelregierung hatte zwar eine "Rechtssicherheit für gemeinnützigen Journalismus" angekündigt, bisher ist diese aber nicht umgesetzt worden: "Der Bundesverband Digitalpublisher und Zeitungsverleger (BDZV) hat sich bereits in der Vergangenheit skeptisch zu einer Reform geäußert und eine Marktverzerrung als mögliche Konsequenz genannt. Der Verband sprach von einer resultierenden 'Zwei-Klassen-Gesellschaft' zwischen steuerlich bevorteilten Angeboten und gewinnorientierten Medien. Allerdings würde der gemeinnützige Status eher solchen Medien helfen, 'die anderes im Sinn haben, als maximale Gewinne zu erzielen', so Weichert. Bis zu einem gewissen Grad könne man sicher von einer Verzerrung sprechen, aber viele Erfahrungswerte gebe es nicht. Gemeinnützige Medien seien aber nicht darauf angelegt, in einen Wettbewerb zu treten."

Der von der SZ in Auftrag gegebene Abschlussbericht zu den Plagiatsvorwürfen gegen Alexandra Föderl-Schmid kommt zu dem Schluss, "dass es sich um keinen Plagiatsskandal handele, dennoch habe Föderl-Schmid in Artikeln Quellen nicht sauber ausgewiesen", meldet Christian Meier in der Welt. Auch die Chefredakteure der SZ, "Wolfgang Krach und Judith Wittwer, sehen entsprechend … keinen Plagiatsskandal. Dennoch, teilen sie mit, handele 'es sich um Verstöße gegen die journalistischen Standards der Süddeutschen Zeitung, über die wir nicht hinwegsehen können.' (…) Alexandra Föderl-Schmid werde zur Süddeutschen Zeitung zurückkommen - in welcher Funktion, sei aber noch nicht geklärt".
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