Weitere Nachrufe auf ThomasHeise (mehr zu dessen Tod bereits hier) schreiben der Dokumentarfilmemacher Gerd Kroske (Spiegel), Matthias Dell (Zeit Online), Dietrich Leder (Filmdienst) und Bert Rebhandl (FAZ). Daland Segler empfiehlt in der FR die 24. Ausgabe des auf den japanischenFilm spezialisierten FilmfestivalsNipponConnection.
Besprochen werden GuyNattivs "Golda" (FAZ, unsere Kritik), DavidBellos' Biografie über Jacques Tati (FD) und die Disney-Serie "Becoming KarlLagerfeld" mit DanielBrühl in der Titelrolle (WamS).
Der Essay- und Dokumentarfilmemacher ThomasHeise ist überraschend im Alter von 68 Jahren gestorben. In der DDR war er ein Unangepasster, der sich wegen eines Studentenfilms, der ein bisschen zu genau auf die soziale Wirklichkeit blickte, auch schon mal mit der Filmhochschule anlegte, schreibt Peter Laudenbach in der SZ. "Sein Stil schon damals: Cinéma-Vérité, beobachten statt werten, spröde und direkt. Der Titel des Studentenfilms nimmt die absehbare Ablehnung der Filmhochschul-Aufseher sarkastisch vorweg: 'Wozu denn über diese Leute einen Film?'" Heise wurde zum "wichtigsten Dokumentarfilmer der DDR-Endzeit und der Härten der Nachwendejahre. Seine dokumentarische Genauigkeit verzichtet sehr konsequent auf effektvolle Spannungsdramaturgie, auf Kommentar und atmosphärische Weichzeichner. Heises sachlicher, voyeurismus-freier Blick steht quer zu Medienformaten, die auf irritationsfreie Eingängigkeit zielen. Die Redakteure der öffentlich-rechtlichen Anstalten waren von Heises Arbeiten genauso überfordert wie die Funktionäre der DDR-Filmhochschule."
Susanne Lenz erinnert sich in der Berliner Zeitung an ihr letztes Gespräch mit Heise, in dem er auch daran erinnerte, wie er in den frühern Achtzigern seiner Exmatrikulation von der Filmhochschule "Konrad Wolf" zuvor kam: "Seine Rechnung ging auf. Er konnte zu DDR-Zeiten tatsächlich noch Filme machen, für die Staatliche Filmdokumentation, die das Leben in der DDR für spätere Generationen dokumentierte. ... Zu DDR-Zeiten zu sehen waren diese Filme nie, Heise hatte dann Hoffnung, im vereinigten Deutschland damit herauskommen zu können. 'Zehn Jahre bin ich damit in der Bundesrepublik rumgerannt', sagt er. Dass es so lang gedauert hat, hat ihn enttäuscht. Er erkannte darin auch ein Desinteresse des Westens am Osten. Thomas Heise passte ohnehin in keines der Systeme, weder in die DDR noch in die BRD. Er legte wohl auch keinen Wert darauf."
Seine Dokumentarfilme "glichen auf eine merkwürdige Weise Meditationen, aber solchen, die zu Hochkonzentrationsräumen werden", schreibt Kerstin Decker im Tagesspiegel: "Heise zeigte grundsätzlich Fließbestände." Sein "Blick wird fehlen. Unfähig zu Draufsichten, zu Kurzsichten, öffnete er Zwischen- und Nebenräume. Aber vor allem blieb er 'sub', immer von unten, konnte die Dinge, die Landschaften erzählen lassen über Menschen." In seinem Blog erinnert sich der Filmemacher ChristophHochhäusler an Heise. Der Dlfführte 2020 ein großes Gespräch mit Heise über Leben und Werk. Auf Vimeo hat er zahlreiche seiner Arbeiten und Skizzen archiviert. Außerdem hält die Mediathek der Bundeszentrale für politische Bildungs viele seiner Filme bereit, darunter auch seinen letzten großen Film "Heimat ist ein Raum aus Zeit" (unsere Berlinale-Kritik).
Außerdem: Hanns-Georg Rodek spricht ind er Welt mit dem polnischen Regisseur PatrykVega, der aktuell sein mit KI-Einsatz entstandenes Biopic über Putin auf dem Weltmarkt zu verkaufen versucht. Der ziemlich wirre Trailer sendet Postkarten aus dem Uncanny Valley:
Besprochen werden GuyNattivs Biopic "Golda" über GoldaMeir (Artechock, unsere Kritik), ToddHaynes' "May December" (Standard, Artechock, unsere Kritik), die Amazon-Comedyserie "Viktor bringt's" mit MoritzBleibtreu (FAZ), die Netflix-Serie "Eric" mit BenedictCumberbatch (Welt) und KatrinSchlössers Dokumentarfilm "Besuch im Bubenland" übers Südburgenland (Standard).
Chris Schinke spricht für die taz mit GuyNattiv über sein Biopic über die frühere israelische Premierministerin GoldaMeir (unsere Kritik, weitere Besprechungen in Tagesspiegel und Welt). Nadine Lange gibt im Tagesspiegel einen Ausblick auf das XposedQueerFilmFestivalin Berlin. DemiMoore hat gerade ein kleines Comeback, berichtet Heide Rampetzreiter in der Presse.
Besprochen werden ToddHaynes' "May December" (Perlentaucher, FAS, FAZ, Freitag, mehr dazu bereits hier), die Netflix-Serie "Eric" mit BenedictCumberbatch (taz), MahaliaBelos "The End We Start From" (taz), DrorMorehs Dokumentarfilm "Kulissen der Macht" (taz, Freitag), Colin und CameronCairnes' Horrorfilm "Late Night With the Devil" (Freitag) und CatherineBreillats "Im letzten Sommer", der nun auch in der Schweiz anläuft (NZZ, unsere Kritik vom Januar).
Timo Lindemann ist in der Jungle Worldsehr begeistert von GuyNattivs Biopic "Golda" über GoldaMeir, das vor allem auf den Yom-Kippur-Krieg 1973 fokussiert. "Es ist ein Verdienst von Nattivs Film, die Notwendigkeit der israelischen militärischen Stärke und ihrer konsequenten Anwendung gerade im Sinne eines Friedens, der den Namen verdient, ungebrochen zu zeigen - wider eine zeitgenössische internationale Öffentlichkeit, die sich bei Angriffen auf den jüdischen Staat lediglich zu halbherzigenBetroffenheitsfloskeln bequemt, um sodann im Angesicht einer israelischen Reaktion als Warner und Mahner über vermeintliche jüdische Aggression zu schwadronieren."
Philipp Stadelmaier in der SZ findet es indessen "nicht wirklich" naheliegend, den Film "als direkten Kommentar auf die Gegenwart Israels zu lesen. Im Gegenteil: Dieser Film, in dem die Innenräume praktisch nie verlassen werden, richtet sich in einem verstaubten, muffigen Museum der Vergangenheit ein, in dem Geschichte mehr erinnert als lebendig und 'gegenwärtig' gemacht wird. ... Diese Reduktion aufs Kammerspiel führt zu keiner tieferen Reflexion über das Geschehen, sondern zu einer oberflächlichenAusstattungsorgie: Hauptsache, die Telefone sind alt, die Frisuren akkurat, und man erkennt Helen Mirren unter ihrer Schminke kaum wieder." Der Film ist "im Grunde ein heroisierendes Historienspektakel, wie man es genauso über Churchill oder Bismarck drehen könnte oder gedreht hat, ein personalisiertes Gewissensdrama zwischen Entschlossenheit und Skrupeln", schreibt Thomas E. Schmidt in der Zeit. Außerdem erinnert in der Zeit Jan Ross an Meir als Mensch (unser Resümee in der Debattenrundschau).
Weitere Artikel: Thomas Abeltshauser spricht für die taz mit ToddHaynes über dessen neuen (heute auch in der FRbesprochenen) Film "May December" (mehr zu dem Film bereits hier). Ivona Jelčić führt im Standard durchs Programm des InternationalenFilmfestivalsInnsbruck. Marian Wilhelm stellt derweil im Standard Filme aus dem WienerKurzfilmfestival vor. In der FAZgratuliert Eva-Maria Magel ClaudiaDillmann, die von 1997 bis 2017 das Deutsche Filmmmuseum in Frankfurt geleitet hat, zum 70. Geburtstag.
Besprochen werden AnjaSalomonowitz' Biopic "Mit einem Tiger schlafen" über die Künstlerin MariaLassnig (online nachgereicht von der FAZ), Dror Morehs Dokumentarfilm "Kulissen der Macht" über die US-Außenpolitik (FR), MichaelFetter Nathanskys "Alle die du bist" (Tsp) und die Netflix-Serie "Eric" mit BenedictCumberbatch (Presse). Außerdem informiert das Filmkritikerteam der SZ, welche Filme sich diese Woche lohnen und welche nicht.
Tagesspiegel-Kritiker Jan Künemund hat viel Freude daran, wie ToddHaynesNataliePortman und JulianneMoore in "May December" im Duell der Nervenzusammenbrüche inszeniert: Der Regisseur "kennt sich sehr gut aus mit flamboyanten Inszenierungen toxischer Weiblichkeit, und Moore und Portman geben wirklich alles, um das bereits erhitzte Filmmaterial nochmal auf den Grill zu legen. Immer wieder nimmt die Kamera die Position eines Spiegels ein, vor dem die Figuren (und die Schauspielerinnen) ihre Gesten überprüfen, ihre Nervenzusammenbrücheproben, den Effekt ihrer gelispelten Pointen kontrollieren." Die zahlreichen Referenzen, die Haynes in seinem Film als Ostereier versteckt, muss man dabei "nicht kennen, um in 'May December' Spaß zu haben. Das von zwei grandiosen, High-Camp-erfahrenenSchauspielerinnen abgefackelte Duell zweier schillernden Figuren am Rande eines Sumpfgebiets, in dem die hochfrequenten Geräusche der Grillen an den Nerven zehren, reicht für diese Method-Acting-Party vollkommen aus."
Außerdem: Karsten Munt führt im Filmdienst durch die Filme von SeanBaker, dessen neuer Film "Anora" eben in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnet wurde (unser Resümee). Trump hat eine Unterlassungserklärung gegen AliAbbasis in Cannes gezeigten Film "The Apprentice" abgegeben, berichtet Marie-Luise Goldmann in der Welt. In der FAZgratuliert Andreas Kilb Jean-PierreLéaud zum 80. Geburtstag.
Besprochen werden MichaelKlofts von der ARD online gestellte Dokumentation "24 h D-Day" (FAZ), die ARD-Doku "Geheimdiplomat Bundeskanzler: Wie HelmutKohl die Staatssicherheit narrte" (FAZ) und die Kinderserie "Bluey" (TA).
Am Ende hat die Jury in Cannes unter dem Vorsitz von Greta Gerwig doch nicht MohammadRasoulofs als Favorit gehandelten Film "The Seed of the Sacred Fig" (hier von Anke Leweke auf Zeit Online besprochen) mit der GoldenenPalme ausgezeichnet, sondern SeanBaker für seine sozialrealistische "Pretty Woman"-Variante "Anora". Der eben unter beschwerlichen Bedingungen aus dem Iran geflohene Regisseur wurde mit einem Spezialpreis der Jury "abgespeist", ärgert sich Katja Nicodemus in der Zeit über diese Entscheidung. Dabei wäre eine Goldene Palme für Rasoulof "keine politische Entscheidung gewesen, sondern die einzig Richtige", denn "diese auch formal konsequenteste Erzählung des Wettbewerbs" hatte "gezeigt, wozu das Kino imstande ist: Widerstand in Bilder zu verwandeln, die Angst der Angstmacher vorzuführen." Marie-Luise Goldmann kann in der Welt mit den Entscheidungen der Jury soweit gut leben: "Mit einem Transmusical, einer Sexarbeiterkomödie, feministischem Body-Horror, einem iranischen Widerstandsdrama und einer indischen Hymne an die Schwesterlichkeit zeichnet die Jury am Samstagabend nach zwei Wochen Filmmarathon an der Croisette nun zwar die politischsten, aber auch die mit Abstand überzeugendsten Filme aus." Der Palmengewinner "ist einer dieser Filme, bei denen man sich in jeder Szene neu hinterfragen muss, ob man das, was man gerade sieht, wirklich richtig einordnet - und ob nicht am Ende doch alles ganz anders ist. 'Anora' hat das geschafft, was in einem der anderen Film des Wettbewerbs, in Paolo Sorrentinos 'Parthenope', als Wissenschaft der Anthropologie definiert wird: uns sehen zu lehren."
"Mit Komödien gewinnt man keine Festivals - diese Faustregel gilt seit diesem Samstag nicht mehr", staunt Maria Wiesner in der FAZ. Und tatsächlich, schreibt Daniel Kothenschulte in der FR: Die Goldene Palme ging an den "bei weitem unterhaltsamste Film des Wettbewerbs". Der Film "ist von jener Sorte Perfektion, die man gerne unterschätzt, gerade weil alles wie am Schnürchen klappt. ... Wie Baker gleichzeitig Rollenklischees bedient und diese subtil infrage stellt, soziale Realitäten stets im Blick, braucht den Vergleich nicht zu scheuen mit amerikanischen Klassikern von John Cassavetes. ... Wenn das Festival von Cannes in diesem Jahr eine Botschaft senden wollte, dann hieß sie: Großes Kino entsteht unabhängig von politischen Krisen und lebt vom Miteinander seiner Extreme." Mit dieser Auszeichnung "erfährt das Filmschaffen von Sean Baker, der seit zwei Jahrzehnten sehr genaue Filme über Abhängigkeits- und Machtverhältnisse innerhalb der US-amerikanischen Gesellschaft dreht, eine Anerkennung, die zumindest 'Anora' aus der Arthouse-Nische befreien könnte", freut sich Josef Lederle im Filmdienst. Jenni Zylka (taz) und Bert Rebhandl (Standard) führen durch die Filmografie von Baker, dem Rebhandl ein "Faible für Außenseiter" bescheinigt: "Man könnte Baker durchaus als einen Sozialrealisten bezeichnen, allerdings schickt er seinen Realismus gern auf wildeRitte."
Und das allgemeine Fazit? Der Cannes-Wettbewerb war in diesem Jahr "ungewöhnlichoffen", findet Patrick Staumann in der NZZ: Große Namen konkurrierten hier mit Newcomern. Tazler Tim Caspar Boehme beobachtet hingegen eine "Auswahl von besonders schwankenderQualität". Jan Küveler (Welt) fiel im Programm "von Anfang an eine DominanzweiblicherHauptfiguren in ihrem Ringen um einen fairen Platz in der Welt" auf. Auch Josef Lederle (Filmdienst) sieht in diesem Festivaljahrgang "die Perspektive von Frauen ins Zentrum" gerückt: "Gegen so viel Vitalität, Feinsinn und politischen Weitblick kamen die Werke alter Meister nicht an." Weitere Cannes-Resümees schreiben Valerie Dirk (Standard), Andrey Arnold (Presse) und David Steinitz (SZ).
Außerdem: Für die Zeit hat sich die Tennisspielerin AndreaPetkovicLucaGuadagninos Tennisfilm "Challengers" näher angesehen. Peter von Becker schreibt im Tagesspiegel zum Tod des Filmemachers und Schriftstellers ThomasVoswinckel. Besprochen werden AnjaSalomonowitz' Biopic "Mit einem Tiger schlafen" über die Künstlerin MariaLassnig (JungleWorld), die deutsche, auf Netflix gezeigte Mystery-Serie "Pauline" (BLZ) und die Serie "Feud" (vom TA für die SZ online nachgereicht).
In Cannes geht die diesjährige Ausgabe der Filmfestspiele ihrem Ende entgegen. Der vielleicht am dringlichsten erwartete Film steht ganz am Schluss: "The Seed of the Sacred Fig", die jüngste Regiearbeit des in filmreifer Manier aus seinem Heimatland geflohenen iranischen Regisseurs Mohammad Rasoulof. Das Familiendrama handelt von einem konservativen Richter und dessen rebellischen Töchtern. David Steinitz zeigt sich in der SZ beeindruckt: "Der Film zeigt viele echte, sehr brutale Internetvideos von Demonstrationen, und wie sie von den Behörden mit aller Gewalt zerschlagen werden. Blutüberströmte Menschen liegen am Boden, überall Knüppel und Schüsse und Rauch. Und weil die Töchter einem Mädchen helfen, das bei den Protesten verletzt wird, zieht sich der Riss, der durch die iranische Gesellschaft geht, bald auch durch die vierköpfige Familie. Wer steht auf wessen Seite? Gegenseitiges Misstrauen und Paranoia machen sich breit, der Schutzraum des friedlichen Zuhauses zerbricht immer mehr." Auch Marie-Luise Goldmann findet Gefallen an dem Film und erklärt ihn in der Welt zum Goldene-Palme-Mitfavoritin. In der FAZ kommentiert Marie Wiesner die politische Bedeutung des Cannes-Screenings des Films.
Auch Sean Bakers "Anora" kommt gut an bei der Kritik. Die Komödie um die Titelfigur, die als Stripperin einen Oligarchensohn umgarnt, beweist laut FAZ-Autorin Marie Wiesner ein weiteres Mal, dass Baker lieber zeigt, "was andere ihre Figuren mit großen Worten erklären lassen würden. Man muss genau hinsehen und jede Sekunde auskosten, um etwa das kurze Aufflackern stummen Entsetzens zu registrieren, das durch Anoras Blick huscht, als Ivan sehr viel Geld mit leichter Hand am Roulettetisch setzt - und verliert. (…) Wie ein Artist auf dem Drahtseil hält Baker bis zum Ende die Balance zwischen Komödienelementen und Sozialkritik, erinnert immer wieder daran, dass in Amerika zwar vor dem Gesetz alle gleich sind, ein teurer Anwalt am Ende aber doch für den entscheidenden Unterschied sorgen kann." Für critic.deschreibt Till Kadritzke über den Film, fürfilmstarts Christoph Petersen.
Mehr aus Cannes: In der FAS zieht ebenfalls Maria Wiesner bereits Ihr Festival-Resümee. Valerie Dirk bringt uns im Standard einige wichtige Zahlen der diesjährigen Ausgabe nahe. taz-ler Tim Caspar Boehme zufolge herrscht im Wettbewerb vor allem Ratlosigkeit. Jan Küveler schreibt in der Welt über Geschlechterkämpfe auf den Cannes-Leinwänden.
Auf Eskalierende Träume blickt perlentaucher-Autor André Malberg noch einmal auf die Kontroversen um die diesjährige Ausgabe der Kurzfilmtage Oberhausen und macht sich im Anschluss daran Gedanken über fragwürdige Traditionen linker Ästhetik: "Linke Ästhetik der Gegenwart, das ist nicht selten der ungehemmte und exklusiv männliche Geniekult der alten Rechten, zurückgekehrt als Sieg der totalen Selbstgerechtigkeit, die sich für pure Vernunft hält. Es ist eine Ästhetik, der man sich hingibt. Che Guevaras Antlitz, das berühmte Zwillenbild der Antifa, dessen Vorläufer und Derivate, revolutionärer Chic. Einer muss immer Goliath sein, wer es nicht ist, wird automatisch David. Und umgekehrt. Einer die Kuh, einer der Schlachter. Dabei passen beide Bilder in der Realität auf fast gar nichts, bilden sie realexistente Machtgefüge und -gefälle einzig als Pop Art gewordene Wohlfühlfantasie ab."
Weitere Artikel: Ken Loach und Mike Leigh, zwei Schwergewichte des britischen Autorenfilms, wollen, wie die FAZ berichtet, nicht länger Schirmherren des Londoner Phoenix Cinema sein - weil dort das vom Israelischen Staat geförderte "Seret Film Festival" stattfinden soll (mehr auch im Guardian). Der französische Sender BFMTVmeldet, dass die Stadt Straßburg das Festival "Schalom Europe", eine Reihe mit israelischen Filmen, die hier seit 15 Jahren stattfindet, ohne Angabe von Gründen abgesagt hat. Der "Super Size Me"-Regisseur Morgan Spurlock ist gestorben, wie unter anderem der Standardmeldet. In der tazinterviewt Chris Schinke Guy Nattiv, den Regisseur des Biopics "Golda" über Golda Meir. Peter Praschl erinnert in der Welt an Spike Jonzes "Her". In der Welt spricht Martin Scholz mit "Furiosa"-Regisseur George Miller.
Besprochen werden Bernhard Sallmanns Essayfilm "Fluchtburg" (FAZ) und Todd Haynes' "May Dezember" (FAS).
Andreas Busche trifft sich für den Tagesspiegel mit Kirill Serebrennikow, der das Leben des früheren Schriftstellers und später rechten Politikers Eduard Limonow mit "The Ballad" als "Fieberfantasie verfilmt" und in Cannes uraufgeführt hat. Serebrennikow ist mittlerweile selbst im Exil und musste diverse Hürden nehmen, um Emmanuel CarrèresRoman über Limonow zu verfilmen. Er erklärt, warum er trotzdem an dem Projekt festgehalten hat: "'Wir studieren dieses faszinierende Objekt aus allen möglichen Perspektiven, um es besser verstehen zu können', beschreibt Serebrennikow seinen Ansatz. Den Film nennt er ironisch ein 5D-Modell - 'inklusive Geruch'. Dass er vor allem die 1970er Jahre fokussiert und die 'Baseballschläger-Jahre' Limonows eher pflichtbewusst erst in den letzten dreißig Minuten aufgreift, hat vielleicht aber doch mit Serebrennikows romantischem - und letztlich auch eitlem - Verständnis der Künstler-Persona zu tun. 'Ich kann mich mit Limonows Haltung, sich gegen alles zu stellen, in gewisser Weise identifizieren. Für einen Künstler ist das eine gute Position, nicht nach den Regeln zu spielen, die uns angeboten werden. Heiner Müller hat einmal gesagt: Steh über allem. Nur so verstehst du beide Seiten', sagt Serebrennikow. Eddie Limonow bleibt auch in der fünften Dimension ein Rätsel."
Dass sich auch auf dem Filmfestival Cannes politische Botschaften nicht verbannen lassen, heißt Valerie Dirk in ihrer Standard-Kolumne gut. Der künstlerische Leiter Thierry Frémaux hatte Solidaritätsbekundungen gleich welcher Art untersagt, "und dann kam Cate Blanchett, lüpfte ihre Schleppe und schummelte so doch noch eine Solidaritätsbekundung mit Palästina auf den roten Teppich. Und das ist gut so, ganz egal ob man einer Meinung mit Blanchett ist. Denn Politik findet niemals nur auf der Leinwand statt, sondern auch davor und dahinter. Und auf Filmfestivals treffen die politischen Diskurse aufeinander. Schon der Gründungsmythos des 1939 geplanten und 1946 erstmals veranstalteten Festivals von Cannes besteht darin, ein Kino-Bollwerk für die freie Welt zu sein - in Abgrenzung zu den einst faschistisch und bolschewistisch vereinnahmten Filmfestivals von Venedig und Moskau."
Weitere Artikel: Für die zweite Staffel der Anthologie-Serie "Them: The Scare" braucht man keine Vorkenntnisse aus der ersten, versichert Hendrik Buchholz in der FAZ, die Handlung um die schwarze Polizistin Dawn Reeve, den Serienmörder Edmund Gaines und die mysteriösen Morde, die an Angehörigen von Minderheiten begangen werden, ist in sich geschlossen. Es wird viel auf klassischen Horror gebaut, Schwächen in der Figurengestaltung gibt es trotzdem. Besprochen werden: "Kinds of Kindness" von Yorgos Lanthimos und "Emilia Pérez" von Jacques Audiard in Cannes (Welt), "Motel Destino" von Karim Ainouz (Taz) und "Furiosa: A Mad Max Saga" von George Miller (Standard, Zeit Online).
Der Malerin Maria Lassnig ging es in ihrer Kunst um "Body-Awarness" - und zwar lange vor den "Achtsamkeitsexpertinnen des 21. Jahrhunderts", schreibt Josef Grübl in der SZ. Die österreichische Regisseurin Anja Salomonowitz hat ein Biopic über die Künstlerin gedreht, deren Bilder erst wirklich erfolgreich wurden, als sie schon recht alt war. "Mit einem Tiger schlafen" ist mehr als ein herkömmliches Biopic, so Grübl, wirklich aufregend wird es aber durch die Hauptdarstellerin, findet er: "Der Film- und Bühnenstar Birgit Minichmayr ist großartig in diesem assoziativen Künstlerinnen-Porträt, mit wenigen Hilfsmitteln (wie etwa Gehstöcken oder entsprechender Garderobe) verkörpert sie Lassnig als Neunzigjährige ebenso wie als Siebenjährige. Das ist Schauspiel in seiner reinsten Form - über Gestik, Stimme und Imagination."
Gunda Bartels teilt im Tagesspiegel ihre Lieblingsszene aus dem Film, in der Lassnig nach einer Ausstellungseröffnung von allen allein gelassen wird: "Dass die reduzierten Schwarzweiß-Malereien namens 'Stumme Formen' den Kunststil Informell in Österreich mitbegründen, kratzt zu der Zeit niemanden. Bis auf die Ameisen. Unter ihnen hat sich offenbar herumgesprochen, dass Maria Lassnig schon in ihren Mädchentagen in Kärnten kein Insekt zerquetscht hat, sondern im Gegenteil Ameisen und Spinnen als Gefährten betrachtet, die es aus Badewannen zu retten gilt. Also kommen die Ameisen angetrippelt und tragen das schwankende Gemälde neben der beladenen Künstlerin her. Es ist das schönste Bild des Künstlerinnendramas, das - quasi in dokumentarischen Einschüben - immer wieder Lassnig-Gemälde zeigt." Taz-Kritikerin Katrin Bettina Müller braucht für die vielen Zeitsprünge im Film etwas Geduld.
Zurück in Cannes: Hier lief der fünfte "Mad Max"- Film an. Fans werden sich freuen, meint SZ-Kritiker Tobias Kniebe, entdeckt im Prequel von George Miller, dass die Vorgeschichte der Motorradfahrenden Rächerin "Furiosa" erzählt, allerdings einige Logiklöcher und findet - so ganz haut das alles nicht hin: "Als Einzelstück ist er eine Studie übers Überleben im Extremzustand, mit interessanten Gedanken über Kampf- und Anpassungsstrategien und die Notwendigkeit der Kooperation unter machthungrigen Psychopathen. Ganz überzeugend ist er nicht. Wie er als Double-Feature mit 'Fury Road' funktioniert, in einer vielstündigen Kinonacht mit Ohropax und höchster Oktanzahl - das werden die Mad Maxianer unter uns nun sehr bald herausfinden."
Im Perlentaucher Thomas Groh ist hingegen überrascht - Dieser "Mad Max" interessiert sich zur Abwechslung mal mehr für Menschen als für Autos: "So viel Plot, so viel persönliches Drama, so viel Shakespeare'sche Tragödie gab es im Franchise nicht mehr seit dem allerersten 'Mad Max' (damals noch der damaligen Gegenwart verpflichtet, die von Punk und Metal informierte Fantasy-Welt, die heute mit dem Franchise in Verbindung gebracht wird, war eine Erfindung des Sequels). War 'Fury Road' ein Glanzstück der Tugend 'Show, don't tell'... ist 'Furiosa' ein Stationendrama, das Millers einst sehr wandelbare, nun aber offenbar durchdefinierte Postapokalypse mit viel World Building ausstattet."
Weiteres: In der FRteilt Daniel Kothenschulte seine Eindrücke aus Cannes. In der tazberichtet Tim Caspar Böhme. Im Tagesspiegelmeldet Christiane Peitz, dass das Bundeskabinett den Entwurf zum neuen Filmförderungsgesetz absegnete. Besprochen werden Ali Abbasis Trump-Film "The Apprentice" (Welt, FAZ, tsp) und Jennifer Podemskis Serie "Little Bird" (auf Arte zu sehen) (taz).
In Cannes sorgt Ali Abbasis Film "The Apprentice" über den jungen Donald Trump für Furore. Trump fühlt sich verleumdet und droht bereits mit einer Klage gegen einen Film, der unter anderem eine Szene enthält, in der er seine Exfrau Ivana vergewaltigt. Marie-Luise Goldmann allerdings beschreibt in der Welt einen Film, der Trump nicht nur als Monster darstellt. Abbasi zeichne "den jungen Trump der siebziger und achtziger Jahre stets auch als schwachen, bemitleidenswerten Menschen. Gleich in der ersten Szene wird er in einer Bar sitzen gelassen, kurz nachdem seine Begleitung ihm vorgeworfen hat, von berühmten Menschen besessen zu sein. Später leidet er unter Erektionsstörungen, Haarverlust, Bauchfett. Sebastian Stan spielt Trump herrlich abgeschwächt. (...) Er stattet den späteren Politiker mit einer jungenhaften Sanftheit aus, die selbst in seinen unsympathischsten Szenen nicht weicht."
David Steinitz berichtet in der SZ über die kuriosen Hintergründe der Produktion: "Der US-Unternehmer und Milliardär Daniel Snyder, dem unter anderem mal das Football-Team Washington Commanders gehörte, hat den Film über die Produktionsfirma Kinematics mitfinanziert. Snyder darf man besten Gewissens als Trump-Fan bezeichnen. Er hat diesem wiederholt hohe Summen zu politischen Zwecken gespendet. Kurioserweise ging Snyder anscheinend davon aus, dass der Film eine Art Lobeshymne auf den großen Donald werden sollte - und kein Porträt des späteren Präsidenten als Vergewaltiger. Tja." Für die tazschreibt Tim Caspar Boehme über den Film.
Cate Blanchett ist in Cannes tatsächlich als palästinensische Fahne über den roten Teppich spaziert:
Wilfried Hippen befragt für die taz Rasmus Greiner über das diesjährige Bremer Filmsymposium. Josef Lederle veröffentlicht im Filmdienst Cannes-Notizen.
Besprochen werden einige Cannes-Filme: Kevin Costners "Horizon: An American Saga" und Coralie Fargeats "The Substance" (Tagesspiegel), ebenfalls "The Substance" sowie David Cronenbergs "The Shrouds" (Welt) und Jonás Truebas "The Other Way Around" (critic.de). Daneben außerdem, abseits der Croisette, Günter Attelns Dokumentarfilm "Joana Mallwitz - Momentum" (Tagesspiegel), Cece Mlay und Agnes Lisa Wegners "Das leere Grab (taz) sowie Oliver Boczek und Gerald Grotes "Ich habe Kiel erlebt" (taz Nord).